Proteste gegen Sarrazin-Lesung in Görlitz

Am Abend des 25. November 2010 fand eine Vorstellung des Buches „Deutschland schafft sich ab“ mit dem Autor Thilo Sarrazin im Görlitzer Wichernhaus statt.
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Es schien lange so, dass Rassentheorien, Demagogie und Sozialdarwinismus zumindest in der etablierten Politik der Vergangenheit angehört hätten und derartige pseudowissenschaftliche Ansätze längst überwunden wären. Doch der einschlagende Erfolg der aktuellen Sarrazin-Kampagne, welche auf eine breite Unterstützung aus Politik und Medien bauen kann, zeigt aufs Neue, auf welch fruchtbaren Boden rassistische Diskurse in der deutschen Öffentlichkeit fallen. Sie ist ein Angriff gegen alle Mirgrant_innen, die sich insbesondere gegen muslimische Einwanderer richtet. Mit völlig wirren Zahlenspielereien und Statistiken versucht Sarrazin, seine populistischen Thesen zu untermauern. Der Aufschrei aus der politischen Mitte blieb bisher im Wesentlichen aus. Empört mussten wir feststellen, wie der geistiger Brandstifter und Sozialdemokrat Sarrazin ausgerechnet in einer Grenzstadt wie Görlitz ein Podium für seine rassistischen Thesen bekommen sollte. Auf Schärfste kritisieren wir den Agenturbetreiber Michael Sitte-Zöllner, der für die Einladung verantwortlich war, ebenso wie Edwin Schneider, Betreiber des Veranstaltungssaales „Wichernhaus“, der diesen für Sarrazin zur Verfügung stellte. Wir verurteilen das Verhalten aller Beteiligten und bleiben dabei, dass es nirgends einen Platz für rassistische Hetzer geben darf!

Bereits in der Nacht auf den 25.11. wurde dem Veranstalter Michael Sitte-Zöllner von der Agentur WortReich (Am Baruther Berg 3, 02906 Kreba-Neudorf) deutlich gemacht, dass es auch in Görlitz durchaus Menschen gibt, die etwas gegen rassistische Veranstaltungen haben und praktisch dagegen vorgehen. So konnte mensch am Morgen des 25.11. ein Graffiti am Wichernhaus entdecken: „In einer Ausdehnung von 8,30 mal 3,50 Meter hatten Unbekannte mit schwarzer Farbe eine Losung an die Fassade des Wichernhauses aufgesprüht.“, so die Polizei. Gesprüht wurde „Gegen Fremdenhass und Verwehrtungslogik“. Mit dem eingebauten Rechtschreibfehler sollte sicherlich überprüft werden, ob die Besucher_innen der Lesung ihrer eigene Heimatsprache beherrschen. „Ich rechne mit einem Schaden um die 10.000 Euro“, sagte Hausinhaber Edwin Schneider, der mit dem Wichernhaus seit 1996 einen Speise- und Veranstaltungsservice betreibt. Laut Homepage verlangt er für den großen Saal im Wichernhaus 490 Euro Miete, dieses Geschäft ging also voll daneben. Vielleicht lernt er etwas daraus, und überlegt sich in Zukunft zweimal, ob er seinen Saal mit solcherlei Veranstaltungen belegt.

Am Tag der Lesung versammelten sich ca. 50 Antifaschist_innen um gegen die Lesung lautstark zu protestieren. Die Antifaschistische Aktion Görlitz und die Antifaschistische Aktion Zittau hatte zusammen mit der Antifa Lausitz zu Protesten aufgerufen. Nachdem kurzfristig eine Demonstration angemeldet wurde, ging es lautstark mit Transparenten und Fahnen zum Veranstaltungsort. Während sich der Versammlungsleiter mit den Polizeibeamten auseinandersetzen musste, da diese scheinbar das Versammlungsgesetz nicht kennen, skandierten die Demonstrationsteilnehmer_innen immer wieder lautstarke Parolen wie „Sarrazin, du Nazisack, wir haben dich zum Kotzen statt“ und anderes. Unauffälliger gekleidete Menschen verteilten währenddessen vor dem Eingang zum Veranstaltungssaal Flugblätter, die die Thesen Sarrazins inhaltlich widerlegten.

Aus den verlesenen Texten:
Sarrazins Thesen sind rassistisch, weil er bestimmten Kulturen unveränderliche Eigenschaften zuschreibt
Sarrazin zeichnet in seinem Buch das Bild einer deutschen Gesellschaft, die von einem zersetzenden, fremden Islam gefährdet wird. Mit Extrembeispielen, wie ‚Ehrenmord‘ oder islamistischem Terrorismus, wird Musliminnen eine bestimmte Natur zugeschrieben, die als mit der deutschen Kultur unvereinbar angesehen werden. Deutsch-sein und Muslimisch-sein werden als Gegensätze verstanden. Hinzu kommen pseudowissenschaftliche Argumente: Alle Völker hätten ein besonderes Gen (so ist beispielsweise vom „Juden-Gen“ die Rede). Nicht nur, dass solche Argumente nicht stimmen, wohin sie führen hat darüber hinaus der Nationalsozialismus in drastischer Weise gezeigt. ‚Völker‘, ‚Kulturen‘, ‚Nationen‘ und ‚Rassen‘ sind von Menschen ausgedachte Konzepte und haben nichts Natürliches an sich. Indem aber Sarrazin kulturelle Besonderheiten an die menschliche Biologie koppelt, konstruiert er sowas wie ‚Rassen‘. Kultur wird synonym zu ‚Rasse‘. Aufgrund dieser Verbindung von Kultur und unveränderbaren, dem Menschen natürlich innewohnenden Eigenschaften werden Sarrazins Thesen rassistisch. Kultur ist aber nicht natürlich und unveränderbar, sondern immer in Bewegung und entsteht durch Sozialisierung und ständigen Austausch mit anderen.

Sarrazin geht es nicht um Dummheit, sondern um Armut
Sarrazin behauptet, Intelligenz sei vererbbar. Da Akademikerinnen immer weniger, hingegen Migrantlnnen, insbesondere Türkinnen, angeblich immer mehr Kinder bekämen, verlöre die deutsche Gesellschaft intellektuelles Potenzial. Das ist natürlich nicht nur albern, sondern verschleiert auch, worum es Sarrazin eigentlich geht. Intelligenz ist nicht vererbbar, da sie keine natürliche Eigenschaft ist. Wissen und Intelligenz ist Folge von Sozialisierung und Bildung. Sarrazin geht es aber nicht nur um’dummeAusländer‘, da er auch vor der hohen Geburtenrate der deutschen Unterschicht warnt. Er ignoriert, dass arme Menschen in unserer Gesellschaft konsequent von Bildung ausgeschlossen werden. Der soziale Status und Bildung sind von einander abhängig, weil Wohlstand den Zugang zu Bildung gewährt und Bildung wiederum die Voraussetzung für Wohlstand ist. Es ist also keine Frage von deutsch oder nicht-deutsch, sondern von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit.

Menschliches Leben nach der wirtschaftlichen Nützlichkeit zu bewerten, ist menschenverachtend
Sarrazin behauptet, die Zuwanderung in der Bundesrepublik sei ein Fehler gewesen, da dies der deutschen Gesellschaft letztlich mehr gekostet als genützt hätte. Diese Aussage ist nicht nur sachlich falsch, wie sogar das neoliberale Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gezeigt hat. Wirtschaftswachstum ist in Deutschland ohne Zuwanderung nicht möglich. Sarrazins Aussage legt außerdem auch eine tief liegende Verachtung für Menschen offen, die angeblich -wirtschaftlich keine Leistung brächten. Menschliches Leben wird demnach ökonomisch abgewogen. Dies bricht mit der Vorstellung der Gleichheit des menschlichen Lebens und verstößt gegen alle Prinzipien von Menschenrechten und Demokratie.

Sarrazin geht es nicht um Integration, sondern um Ausgrenzung
Sarrazins Fürsprecherinnen und weite Teile der Medien behaupten, Sarrazin hätte endlich eine bundesweite Debatte zur Integration gestartet. Das ist Unsinn! Menschen wie Sarrazin geht es nicht um Integration. In der ‚Integrationsdebatte‘ wird beispielsweise nie nach den Ursachen für die sozialen Probleme von Migrantlnnen gefragt, sondern immer nur über die vermeidlich von Migrantlnnen verursachten Probleme gesprochen und wie man sie zu mehr Anpassung zwingen kann. Migrantlnnen werden dabei grundsätzlich als Problem behandelt. Es geht nie darum, sie einzubinden, sondern sie als Fremde auszugrenzen.

Nicht Sarrazin ist das Problem, sondern seine Positionen.
Letztlich ist Sarrazin nur einer von vielen, die rassistische Positionen vertreten und verbreiten. Doch er ist der Erste, der in Zeiten der Krise den Hass auf Migrantlnnen und auf Hartz-IV Beziehende verbindet und somit die Unsicherheit vieler Menschen ausnutzt. Er präsentiert ihnen Sündenböcke, die an der Misere angeblich Schuld sein sollen. Dass es mitunter die Banken waren, die Milliarden verzockt haben, die jetzt die Bevölkerung in Form von Sparpaketen abzahlen muss, ist kaum noch in Erinnerung. Der Hype um Sarrazins Person ist nicht überraschend: Europaweit ist das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen zu beobachten, die nicht nur antisemitische, sondern immer stärker antimuslimische Vorurteile schüren und das mit dem Verweis auf Meinungsfreiheit rechtfertigen. In einigen Ländern sind solche Parteien sogar mit über 20% in den Parlamenten vertreten.

Zahlreiche überwiegend gut gekleidete Görlitzer Bürger eilten an den Protestierenden vorbei, mit teilweise verstörtem Blick mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass ihre Ansichten nicht unwidersprochen blieben. Vereinzelte Jungnazis und abgehalfterte Ex-NPD´ler um Jürgen-Uwe Krumpholz, Michael Kubitzki (beide DSU-Kreisverband Görlitz) und Mario Ansorge trieben sich ebenfalls in der Nähe des Einganges herum und verteilten einige Handzettel für ihre nächste Parteiversammlung. Nachdem die Lesung anfing, wurde die Protest-Kundgebung für beendet erklärt, nicht ohne noch einmal deutlich zu sagen
„Sarrazin – halt´s Maul!“.

Dass in der Öffentlichkeit Kritik an rassistischen Äußerungen, die scheinbar in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert werden, nicht wieder gespiegelt werden, lässt sich auch am Polizeibericht des darauf folgenden Tages feststellen. Darin heißt es lapidar: „Die etwa 40 Versammlungs-Teilnehmer waren vom Fischmarkt zum „Wichernhaus“ gelaufen, hatten Parolen politischen Inhalts gerufen und einschlägige Redebeiträge gehalten.“. Es ist scheinbar auch der Polizei ein Dorn im Auge, das Problem beim Namen zu nennen – Rassismus. Wir werden auch weiterhin gegen derartige Umtrieben vorgehen und uns aktiv für eine Gesellschaft ohne Rassismus einsetzen!

Quelle:http://de.indymedia.org/2010/11/295457.shtml